• PLÄDOYER FÜR EINE SINGENDE GEMEINSCHAFT
  • Haben wir heute eine Sängerformation, die unserer Zeit gemäß ist? Wie könnte eine solche überhaupt aussehen - und ist dafür ein Dirigent nötig? Verfügen wir über die entsprechende Literatur? In diese Fragen mündet ein Rekurs auf einige Epochen abendländischer Musikgeschichte und die je eigene Ausprägung des gehobenen Ensemblegesangs. Dessen Grundlage waren stets volkstümliche, anonym gewachsene Gesänge.
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  • In der Spätantike entstand der einstimmige Choralgesang, mit dem sich der einzelne Mönch oder die Nonne innerhalb der Klostergemeinschaft an Gott richtete. Der entsprechende vokale Klangkörper war die Schola.
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  • Anders verhält es sich im Mittelalter: Die riesigen, das menschliche Maß fast sprengenden Säulen und Gewölbe der Kathedralen machten die Erhabenheit des Himmels sinnlich wahrnehmbar. In der Musik stand der mehrstimmige Gesang einer Gruppe von Männern für die Musik der Engel vor Gottes Thron. Im Barock wurden die Stilmittel der höfischen Musik, inklusive der neu erfundenen Gattung Oper, rigoros auf die geistliche Musik angewandt. Damit gab es das unbegleitete Vokalensemble als solches nicht mehr - alle Musik wurde mit einem instrumentalen Basso continuo versehen. Die bisher erhabenste Form der Musikervereinigung, das A-cappella-Ensemble, hatte vorerst ausgedient. Ab jetzt war der repräsentative Klangkörper das instrumental besetzte Ensemble beziehungsweise das Orchester. Dazu kamen dann die Sänger, solistisch oder chorisch.
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  • Die Auswirkungen der Aufklärung waren für die gesamte Musik erschütternd. Sowohl das Verständnis des Fürsten von Gottes Gnaden als auch von Gott selbst war obsolet geworden. Als Folge des Zusammenbruchs der alten Ordnung mit ihrem "Verlust der Mitte" (Hans Sedelmayr) wurde Musik nun nicht mehr "ad majorem Dei gloriam" ausgeführt, sondern erklang um ihrer selbst willen. Die nationale Selbstfindung der Völker des 19. Jahrhunderts brachte einen ganz neuen Typus von Singgemeinschaft hervor: den gemischten, vierstimmigen Chor, in dem Frauen und Männer, Laien und gebildete Sänger gleichberechtigt nebeneinander sangen. Ein Chor stellte das ideale Abbild einer Nation dar. Selbstverständlich fand die Chorarbeit unter der Direktion eines obersten Leiters statt. Hierarchie verstand sich noch als naturgegeben.
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  • Vielleicht ist es den pragmatischen Zwängen des Musikbetriebes geschuldet, dass dieses Modell des 19. Jahrhunderts auch ins 20. und schließlich ins 21. übertragen wurde, allem Anachronismus zum Trotz. Ein weiterer Grund für seine überlebensfähigkeit dürfte in dem wachsenden historischen Bewusstsein liegen. Ein Chor bewahrt das Repertoire der Vergangenheit und verhindert, dass es in Vergessenheit gerät, wie im Falle Johann Sebastian Bachs beinahe geschehen.
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  • Die Anforderungen, die die moderne Lebenswelt an uns stellt, sind nicht immer leicht. Oft kann man sie nur erfüllen, indem man sich entsprechend disponiert. Dazu gehört die Fähigkeit des modernen Menschen, die Aufmerksamkeit fokussieren zu können. Ein Auto zu lenken ist nur möglich, wenn die optische Aufmerksamkeit auf das Zentrum des Gesichtsfeldes gerichtet ist und die mentale Aufmerksamkeit sich möglichst ganz dem Geschehen im Straßenverkehr widmet. Wohlgemerkt ist Fokussieren nicht identisch mit Konzentrieren, sondern hat mit der punktuellen Einengung der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Sujet zu tun. Konzentration ist auch bei der anderen Art der Aufmerksamkeit nötig, der vagen. Ein Beispiel: Wenn ich in den Wald gehe, um Pilze zu sammeln, ist es nicht sehr dienlich, wenn ich den Waldboden systematisch oder auch unregelmäßig mit einem fokussierten Blick abtaste, darin einem Laserstrahl ähnlich. Auf diese Weise werde ich, von Zufallsfunden abgesehen, nur wenige Pilze finden. Habe ich den Blick jedoch auf "weit" gestellt und konzentriere mich auf alles, was im Blickfeld ist, habe ich also eine Blickeinstellung, die vage ist, werde ich viel eher fündig als mit der anderen Methode.
    Dieses Prinzip ist jedoch nicht nur im optischen Bereich anwendbar, sondern auch im akustischen. Höre ich im Studio eine Aufnahme auf Fehler und technische Unzulänglichkeiten ab, ist meine Wahrnehmung streng fokussiert. Dasselbe passiert beim Dirigat einer komplexen Partitur Neuer Musik. Da ist vages Hören nicht angesagt. Das ist jedoch bei einer klassischen Symphonie anders. Da habe ich durchaus Möglichkeiten einer vagen Aufmerksamkeit, die ein ganz anderes Musikerleben ermöglicht.
    Ähnlich verhält es sich mit Melos-orientierten Gesängen. Bin ich akustisch-musikalisch vage disponiert, mache ich Funde, die authentische Kraft haben. Mit der fokussierten Wahrnehmung ist das nicht möglich; wenn überhaupt vorhanden, ist den melodischen Ergebnissen die Absicht des Finders anzumerken und sie sind schwach. Melos kommt aus einer vagen Gehörsdisposition.
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  • Wenn das historische Bewusstsein Teil unseres heutigen Selbstverständnisses ist, dann ist der gemischte Chor mit seinem weisungsbefugten Leiter ein Ausdruck auch unserer Zeit. Bietet uns aber dieser indirekte, gebrochene Zugang zum Gesang über den Umweg einer vergangenen Epoche tatsächlich eine hinlängliche Identifikationsmöglichkeit - wo es doch primär um das Lebensgefühl des bürgerlichen Zeitalters geht?
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  • Ein weiteres Problem: Anders als je zuvor beruht die gehobene Neue Musik nicht mehr auf der volkstümlichen, denn eine Volksmusik als Referenzquelle für die Kunstmusik existiert nicht mehr. Volksmusik ist einem unternehmerisch funktionierenden Folklore-Entertainment gewichen. Zudem hat spontaner Gesang in unserer Lebenswelt keinen Stellenwert - die elektronischen Medien haben ihn überflüssig gemacht. Außerdem: Welche Texte in welcher Sprache sollten gesungen werden? Wir haben keine Epochenidentität! So erschütternd diese Einsicht aufs Erste scheinen mag, so birgt sie doch die Möglichkeit vieler legitimer Lösungen, von denen eine der herkömmliche, vierstimmig gemischte Chor sein mag.
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  • Eine andere zeigt John Cage auf, der in seinem Stück "Four2" (1990) ein Ensemble von eigenverantwortlichen Menschen benötigt, die ohne Dirigenten singen. Die Koordination erfolgt vermittels einer Uhr. Innerhalb einer gewissen Zeitspanne hat man einzusetzen und den Ton so lange zu halten, bis er - wieder innerhalb einer angegebenen Zeitspanne - aufhören kann. In Verantwortung für die Stimmgruppe hält man den Ton solange, bis ihn jemand anders übernimmt. Das hat durchaus abbildhaften Charakter für eine utopische, kleingliedrige und selbstverwaltete Gemeinschaft, deren Struktur nicht an einer starren Hierarchie orientiert ist, sondern an individuell ausgeprägten Kompetenzen. Der Einzelne steht und agiert im Spannungsfeld zwischen persönlichen und gemeinschaftlichen Interessen.
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  • Die Tatsache, dass es bereits einige freie Sängerformationen gibt, die ohne Dirigenten arbeiten, wie chorische Improvisationssessions und die verschiedenen Arten des sog. offenen Singens, dokumentiert ein Unbehagen an der derzeit üblichen Situation.
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  • Stellen wir uns grundsätzlich der Frage, wie ein Gesangsensemble aussehen soll, das die Signatur der Gegenwart trägt, so müssen wir vorher einige andere wichtige Fragen klären:
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  • Wollen wir wirklich singen?
  • Welchem Zweck dient der Gesang?
  • Welche Texte wollen wir in welcher Sprache singen?
  • Welchen Platz hat der Gesang in unserer Lebenswelt?
  • Welche Vorstellungen haben wir von der Gemeinschaft, innerhalb derer der Gesang erklingt?
  • Ist das klassische Konzert als dienstleistungsorientierte Veranstaltung die adäquate Form für die Ausübung des Gesanges?
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  • Genau besehen ist nicht nur die Rolle des Dirigenten, sondern wahrscheinlich auch die des Komponisten zu hinterfragen und neu zu entwerfen. Personen mit stilistisch-interpretativer oder auch kreativer Kompetenz werden sicher immer vonnöten sein. Dass sie aber dem Bild entsprechen, das das 19. Jahrhundert von ihnen entworfen hat, mag in Frage gestellt werden. Es versteht sich von selbst, dass in der Folge davon auch der im Ensemble singende Mensch seine Rolle neu zu bestimmen hat.
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  • Eindeutige und erschöpfende Antworten auf diese Fragen sind sicher nicht möglich. Sie können jedoch ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man ein komplexes Problem an vielen Stellen - gesellschaftlich, politisch, künstlerisch, ökonomisch - anpacken kann und soll. Die Zeit dafür ist reif.
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