- Das magische Kräuterbündel der Bantawa-Rai in Ost-Nepal
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Pflanzen singen hören
Im Osten Nepals leben die Bantawa-Rai. Die meisten von ihnen sind Hirse- und Reisbauern
und existieren auf sehr niedrigem zivilisatorischem Standard. Ihr Leben ist stark
naturabhängig und -verbunden. Sie fühlen sich nicht abgelöst von der Natur als ihr
Herrscher sondern eingebettet in sie als Teil von ihr. Ihre natürliche Umgebung
ist für sie ein vielschichtiges Gegenüber aus Pflanzen Tieren Gewässern Bergen
und Geistwesen die mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehen sowie ihren
Ahnen. Natur insgesamt gilt als wesenhaft. Das prägt nicht nur das Selbstverständnis
der Bantawa-Rai sondern im Zusammenhang damit auch ihre Anschauung von Heil- bzw.
Kranksein. Ist die Verbindung zu ihrer natürlichen Umgebung nicht intakt so äußert
sich das als Krankheit. Hat jemand beispielsweise akustische Illusionen in der Art
des Tinnitus so sagen sie er höre die Pflanzen singen. Ein mächtiger Geist dürfte
ihn besetzt haben womit er ein Fall für eine Heilung ist. Der Patient braucht die
Hilfe eines Schamanen. Er sucht ihn also auf und bittet ihn für ihn tätig zu werden.
Stellvertretend für den Kranken übernimmt der Schamane die knifflige und nicht immer
ungefährliche Aufgabe die Wesen die den Patienten bedrängen und krank machen zu
befrieden zu bannen oder dorthin zu schicken wo sie eigentlich hingehören. In unserem
Fall führt er ein Ritual durch in dessen Verlauf er singend das Wesen des Adlerfarnes
ruft. Dann wirft er Stücke der frischen Farnblätter auf den Kranken und singt dabei einen
Zauberspruch. Handelt es sich um einen guten Schamanen ist der Patient in Kürze frei von Beschwerden.
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- Bantawa-Rai, Schamanin mit doppeltem Seoli (auf dem Bauch und dem Rücken)
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Es erscheint wichtig darauf hinzuweisen dass bei einem derart magischen Heilvorgang grundsätzlich
versucht wird die Krankheitsursachen für welche auch immer der Schamane sie hält zu
beseitigen und nicht die Symptome. Letzteres fällt in das Ressort der häuslichen
verbreiteten und üblichen Phytotherapie. Anders gesagt: Was die Hausmedizin nicht
schafft fällt in den Zuständigkeitsbereich eines professionellen Heilers des Schamanen.
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Einfalt
Diese kleine Geschichte würde man im aufgeklärten Westen nun als gelungenen Fall eines
Placebo-Effektes abtun und sowohl den Schamanen als auch seinen Patienten einer geradezu
kindlichen Naivität bezichtigen. Wie kann man so einfältig sein und die Pflanze mit menschlichen
Worten ansprechen bzw. zu ihr zu singen? Wie kann man davon ausgehen dass die Pflanze ihrerseits
aktiv wird und den gefährlichen Geist bannen hilft? Und überhaupt: Was soll das ein ein gefährlicher
Geist? Dem ist entgegenzuhalten dass der moderne Mensch nicht über die Naturerfahrung verfügt
die die Bantawa-Rai haben. Ihr Umgang mit der Natur ist in hohem Masse direkt. Sie erfahren
ihre natürliche Umgebung unmittelbar und persönlich. Die Deutung dieser persönlichen Erfahrung
geschieht dann vor dem eigenen kulturellen Hintergrund. Das Resultat davon ist eine Auffassung
von Natur die sich von der der modernen technisierten Welt stark unterscheidet. Im
Lebenszentrum eines Bantawa-Rai steht die Natur; im Lebenszentrum des modernen Menschen
steht die Technik. Der Zugang des modernen Menschen zur Natur ist längst mittelbar geworden
der Umgang mit ihr ist durch Apparate und Maschinen geprägt. Das Misstrauen den eigenen
Sinnen und der eigenen Intuition gegenüber ist so groß dass nur objektivierbare Fakten
als Ergebnisse von Wahrnehmungsvorgängen anerkannt werden. Als Folge davon hat sich der
moderne Mensch eine Haltung angeeignet alles möglichst distanziert und neutral zu
betrachten. Er verdinglicht und objektiviert damit nicht nur seine natürliche und
zivilisatorische Umgebung; er macht auch vor sich selbst nicht halt. So oft wie möglich
ist er dabei sich selbst zu beobachten und zu sehen wie er funktioniert. Dabei
kontrolliert er sich ständig. Diese Haltung ist was die abendländische Kultur-
und Geistesgeschichte angeht sicher plausibel und gerechtfertigt. Die Gefahr besteht
lediglich darin immer mehr geneigt zu sein nur noch das als Realität anzuerkennen
was objektiv verifizierbar ist. Die persönliche Erfahrung ist jedoch eine ganz andere.
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Die persönliche Erfahrung
Ein Beispiel: In der Beschreibung der klassischen Anatomie ist das Auge ein Wahrnehmungsorgan.
Auf seiner Netzhaut trifft Licht auf und löst dort Reize aus die ins Gehirn übertragen werden.
Dort werden die verschiedenen Impulse wieder zu einem kompletten Bild zusammengesetzt und bewirken
so die optische Wahrnehmung des Bereiches der vor den Augen liegt. Vermittels einiger Muskeln
kann man das Auge willkürlich in verschiedene Richtungen lenken; ansonsten gilt es als passives Empfängerorgan.
Unsere persönliche Erfahrung entspricht dem nur zum Teil: Da ist das Auge durchaus auch ein Sendeorgan
was sich im übrigen deutlich im Sprachgebrauch niederschlägt der das Verb "sehen"
transitiv behandelt: "Ich sehe dich an." Ich kann jemand liebevoll zärtlich erstaunt
etc. ansehen. Ich kann einen Blick senden. Dieser Blick kann aber auch wütend neidisch oder
hasserfüllt sein. In dem Fall einer Kultur wie der der Bantawa-Rai stellt das eine ständige
Gefahrenquelle dar. Dieser böse Blick kann aber nicht nur von Menschen geschickt werden sondern
auch von Tieren oder mythologischen Wesen wie den legendären neun Töchtern des Urschamanen die
im Wald herum streifen beträchtlichen Schaden anrichten und oft im Traum erscheinen. Der mit
einem bösen Blick derart Angesehene kann auf Grund der dadurch erlittenen Schwäche leicht für
Krankheiten anfällig werden. Er hat beispielsweise Schwindel-und Ohnmachtsanfälle keinen
Appetit und ist allgemein antriebslos und schwach. Bei entsprechender medizinischer Untersuchung
würde man im Westen etwa zu der Diagnose kommen dass der Betreffende einen niederen Blutdruck
habe unter Stress und einer psychosomatischen Essstörung leide. Demgegenüber würde ein Schamane
der Bantawa-Rai vielleicht feststellen dass der Kranke durch einen bösen Blick geschwächt sei.
So wäre es möglich geworden dass ihm ein gieriger Geist ein Totengeist aufsitzen würde. Die Rai
sind der Meinung dass ein Mensch der nicht mit sich und der Welt im Reinen stirbt also etwa
durch einen Unfall oder als Mutter im Kindbett eine große Gefahrenquelle darstelle. Seine Seele
oder das was von ihm noch übrig ist sei noch lebenshungrig und gehe nicht dahin wo sie hingehöre
sondern suche Seelen geschwächter Lebender auf um sie an sich zu reißen. Dieser sicherlich kulturell
bedingten Interpretation liegt aber eine persönliche Anschauung und Erfahrung zu Grunde die in
unserem Sinn objektiv sicher nicht verifizierbar ist hingegen in eine kulturelle Konvention eingebettet ist.
Der Schamane sieht in seiner Trance zweifelsohne etwas und benennt es dann so wie er es gelernt hat.
Zurück zu unserer Geschichte: Gegen diesen bösen Geist muss und kann etwas unternommen werden. Der Schamane
führt ein Heilritual durch dessen Ziel es ist den Totengeist der dem Kranken aufsitzt entweder
wegzuschicken oder auf der Stelle zu bannen. Der solcherart bedrängte Geist stellt aber nunmehr für den
Schamanen selbst eine Gefahrenquelle dar. Er kann während des Rituals von dem quasi freigesetzten
Totengeist selbst attackiert werden. So muss er sich so gut es geht schützen. Eines der Hilfsmittel
dabei ist ein Bündel wirksamer Kräuter "Seoli" genannt.
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Pflanzen und ihre Bedeutung
Pflanzen haben für den Menschen verschiedene Bedeutungen. Wir erfreuen uns an
ihrem ansprechenden äußeren seien es Blütenpflanzen oder einfach nur
das satte frische Grün in Wiese Feld oder Wald das die Landschaft prägt.
In der Photosynthese binden sie das für Menschen giftige Kohlenstoffdioxid und
setzen den lebenswichtigen Sauerstoff frei. Der Planet Erde wurde durch die
Photosynthese für den Menschen erst bewohnbar.
Ihr Holz- und Zellulose-Anteil macht sie zu Lieferanten für Bau- Papier- und Kleidungsmaterialien.
In Form von Holz Kohle Pflanzenfetten oder Mineralöl bzw. -gas sind sie nach
wie vor unentbehrliche Energieträger und darüber hinaus Rohstofflieferanten
für viele Arten bio- bzw. petrochemischer Produkte.
Aus ihren aromatischen ölen werden Duftstoffe hergestellt.
Pflanzen sind für uns unabdingbar wichtige Lebensmittel als Spender von Kohlehydraten
Vitaminen Eiweißen Gewürzen und Ballaststoffen.
Als Tierfutter werden Pflanzen in tierisches Fett und Eiweiß umgewandelt und
tragen in Form von Fleisch oder Fisch ebenso zu unserer Ernährung bei. Am Anfang
jeder Nahrungskette stehen Pflanzen!
Gewisse Substanzen machen Pflanzen schätzen wir als Genussmittel die aus unserem
Leben nicht wegzudenken sind wie Nikotin Thein Coffein Alkohol und viele andere psychoaktive Substanzen.
Darüber hinaus sind Pflanzen vielseitig verwendbare Heilmittel. In der klassischen
Medizin greift man auf sie zurück als Lieferanten bio-chemischer Wirkstoffe
die zusammen mit der Trägerpflanze oder extrahiert und eventuell umgewandelt als
medizinische Droge Verwendung finden. Das gilt gleichermaßen für die allopathische
und homöopathische Medizin wie für die ayurvedische tibetische oder chinesische Medizin.
In allen genannten Fällen stellen Pflanzen eine zur Verfügung stehende
Ressource dar derer man sich als Sache bedient. Ihr Status als Lebewesen oder wesenhaftes
Gegenüber spielt dabei keine Rolle. Der Gefahr einer drohenden Plünderung der
pflanzlichen Ressourcen ist man sich wohl bewusst und behandelt diese - wenigstens
manchmal - so schonend als notwendig um sie nicht als Rohstofflieferant zu verlieren.
Das zöge ja einen erheblichen materiellen Schaden bzw. eine Gefährdung des
Lebensstandards nach sich und hat mit Respekt vor dem Pflanzenwesen nichts zu tun.
Anders verhält es sich bei einem Naturvolk wie dem der Bantawa-Rai: Ihre
Anschauung und Erfahrung von Pflanzen unterscheidet sich von der westlichen. Sie
sehen in der Pflanze zu allererst ein lebendiges Gegenüber das schon allein
durch sein Gegenüber-Sein eine stark vitalisierende Wirkung ausübt
so wie man das auch von Menschen kennt. Diese vitalisierende Kraft macht sie zur
Quelle zahlreicher Heilmittel. Dabei unterscheiden die Bantawa-Rai genau zwischen
Pflanzen deren Wirkung medizinisch ist und solchen deren Wirkung magisch ist sogenannte
Schamanenpflanzen. Zur ersten Gruppe gehören viele Pflanzen die phytotherapeutisch
genutzt werden ähnlich wie in der westlichen Hausmedizin. Das Wissen darum ist
vielfältig und allgemein verbreitet. Es wird bei vielen Arten von Beschwerden oft
sehr geschickt angewendet. Das genaue Wissen um die zweite Gruppe von Pflanzen den
magischen Pflanzen ist speziellen Heilern den Schamanen vorbehalten. Sie setzen die
Pflanzen im Rahmen teils hochkomplexer Heilrituale ein zum Beispiel auch als Kräuterbündel Seoli.
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Die magische Wirkungsebene
Seoli wirkt auf der magischen Ebene. Dabei handelt es sich um einen immateriellen
außersinnlichen Bereich. Nichtsdestotrotz ist dieser Bereich für die Bantawa-Rai
nicht minder real als unsere sogenannte reale Welt. Leider haftet dem Begriff "Magie"
der Geruch des finsteren willkürlichen Aberglaubens an der dringend durch inter-subjektivierbare
objektive Erkenntnisse ersetzt werden soll. Damit wäre jedoch das Kind mit dem Bade
ausgeschüttet. Ein großer Teil unseres Lebens spielt sich auf der außersinnlichen
Ebene ab. Unsere gesamte Empfindungs- und Gefühlswelt ist davon betroffen. Wenn
ich mich in Gegenwart eines anderen Menschen wohl fühle oder auch nicht so ist damit
just jener Bereich gemeint der allen Versuchen ihn wissenschaftlich zu standardisieren
entgleitet. In ihm spielt sich auch der magische Heilvorgang ab. Wir sagen: "Der Xy
macht mich krank." und meinen damit dass unter Umständen lediglich die Anwesenheit
dieser einen Person uns nicht zum Heile gereicht. Wenn ich jetzt tatsächlich krank
werde weil die Gegenwart dieser Person für mich so unverträglich ist was
übrigens auch bei uns im Westen öfter vorkommt als wir wahrhaben wollen
würden die Bantawa-Rai sagen die betreffende Person hätte mich verhext.
In diesem magischen Bereich also werden die Heilpflanzen eingesetzt. Im europäischen
Mittelalter unterschied man diese zwei verschiedenen Ebenen der Heilung noch gar nicht.
Das dürfte auch der Grund dafür sein warum uns so viele alte Beschreibungen
von Heilpflanzen und deren Wirkung ziemlich eigenartig ja abstrus vorkommen. Man beschrieb
eben die magische Wirkungsebene und nicht die medizinische. Hildegard von Bingen
(H. v. Bingen: Naturkunde Salzburg 1989) schreibt über den Wurmfarn: "Wer den
Farn bei sich trägt ist sicher vor den Nachstellungen des Teufels und vor bösen
Anschlägen auf Leib und Leben. Der Saft des Farnkrautes ist aber auf das Gute und
Heilige gerichtet darum flieht vor ihm alles Böse und Zauberhafte er lässt
daher in einem Hause die Wirkung von Gift und Zauberei vergibnisse’ nicht aufkommen."
Damit ist eindeutig die magische Wirkungsebene angesprochen. Auf der medizinischen
Ebene wurde der Wurmfarn in späterer Zeit als ziemlich riskantes weil
giftiges Wurmmittel gebraucht. Eine Pflanze kann also gegebenenfalls auf beiden
Ebenen eingesetzt werden der magischen und der medizinischen.
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Seoli
Das Seoli besteht aus drei bis sieben verschiedenen frischen Pflanzenzweigen
oder -blättern die zu einem Bündel geschnürt
während eines Heilrituals in zweifacher Ausfertigung vor und hinter dem Körper
des Schamanen in die Bauchbinde gesteckt werden. Der Schamane ist so vor Anfechtungen
vor und hinter ihm gefeit. Aus Gründen der Prophylaxe wird das Seoli grundsätzlich
bei allen größeren Heilungen getragen. Ein solches Ritual ist in eine
imaginäre Reise des Schamanen von Kraftplatz zu Kraftplatz eingebettet. Diese Plätze
gibt es tatsächlich; sie liegen alle im Gebiet der Bantawa-Rai. Sie begrenzen
sozusagen deren gesamte Welt und sind teilweise schwer zugänglich im Bergland verborgen.
Eine Schamanenreise beginnt immer am Haus-Herd des Schamanen weil er sich
als erstes der Hilfe seiner Ahnengeister vergewissern muss die dort wirken.
Dieser Herd besteht aus drei Steinen auf denen ein tönerner Topf zum Kochen
hingestellt werden kann. Zwischen ihnen brennt das Herdfeuer. Das ist das heilige
Zentrum der Familie. Führt der Schamane sein Ritual außer Haus durch
gilt ein dort entzündetes Feuer mit etwas Holzkohle von seinem eigenen Haus-Herd
als Ersatz dafür. Verlässt er während seiner Trancereise den Bereich seines
eigenen Herdes und dessen Unterstützung benötigt er das Seoli.
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Blätter und Zweige der einzelnen Seolipflanzen (von links nach rechts):
Selewa Thumpuk, Thanka Wahi, Uni-Wasep, Tharu-Wasep, Thombi
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Die einzelnen Pflanzen des Seoli ergänzen und verstärken sich in ihrer protektiven
und apotropäischen Wirkung. Mit "protektiv" ist der Schutz vor bösem
Blick Verwünschung Neid etc. gemeint. Der Schützende hat in diesem
Fall mehr Macht als der den Schützling Bedrängende. "Apotropäisch"
ist abwehrend abweisend. Auch hier betrifft es den bösen Blick Neid
Hass etc. Das Abwehren ist ein kämpferischer Akt.
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- Doppeltes Seoli bestehend aus:
Selewa, Thumpuk, Thanka, Uni-Wasep
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Eigenartigerweise machen die Schamanen keinen Unterschied darin ob sie mit der
lebenden intakten Pflanze umgehen oder nur mit frisch gebrochenen Blättern
und Zweigen derselben. Für sie ist bei einem Teil der Pflanze das Pflanzenwesen mit
all seiner Kraft und Wirkung ebenso präsent wie bei der vollständigen Pflanze
in freier Natur. Während des Heilrituals werden immer nur Teile von Pflanzen verwendet.
Ist man unterwegs und erleidet eine krankhafte Attacke spricht man falls
möglich die Pflanze vor Ort an und nimmt ein Stück davon mit. Besteht
auch dazu keine Möglichkeit so ruft man das Pflanzenwesen einfach so an
ohne dass die Pflanze real anwesend wäre. Das Feedback der Pflanze bzw. ihre
Anwesenheit erlebt man dann indem man plötzlich ihren Geruch wahrnimmt.
Dann so sagen die Schamanen ist der Pflanzengeist anwesend und hilft.
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Die einzelnen Pflanzen des Seoli
Selewa (bantawa1) Amarisau (nepali2) Thysanolaena maxima (Roxburgh) Kuntze
1 Im Folgenden ban.
2 Im Folgenden nep.
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Eine dem Schilf (Phragmites australis) ähnliche Pflanze nur viel größer. Durch überlappung der jungen am Stängel anliegenden Blätter bilden sich wie auch bei unserem Schilf in ihrem oberen Drittel typische zickzackartige Einkerbungen die von den Bantawa-Rai als Hexenbiss gedeutet werden.
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Dem liegt folgende Legende zugrunde:
Einst veranstalteten die Schamanen einen Wettstreit mit den Hexen. (Die geschlechtsspezifische
Zuordnung Schamane-männlich und Hexe-weiblich tut nichts zur Sache und
entspringt dem europäischen Sprachgebrauch. Sowohl Männer als auch Frauen
können Schamane oder Hexe sein. Schamanen bringen Heil Hexen Unheil.) Der
Wettstreit bezog sich auch darauf was man mit den Zähnen noch abzubeißen
vermöge. Die Schamanen konnten die zähen faserigen Blätter des
Selewa-Gebüsches noch beißen die Hexen scheiterten daran. Seither
verwenden die Schamanen als Zeichen ihrer überlegenen Stärke Selewa. Aus den
getrockneten leeren Samenrispen werden Besen gefertigt die auch als magisches
Reinigungswerkzeug Verwendung finden.
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- Selewablatt mit Hexenbiss
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Thumpuk (ban.) Seto Kaulo (nep.) Persea odoratissima (Nees) Kostermans.
Mittelgroßer Baum dessen weiche wohlriechende Blätter frisch oder auch getrocknet (Räucherung) verwendet werden. Der starke Geruch der
Blätter, den Menschen als sehr angenehm empfinden, ist für Totengeister ein unerträglicher Gestank vor dem sie fliehen müssen.
Die Blätter werden auch an Tiere verfüttert und können im Fall von Hungersnöten auch von Menschen gegessen werden.
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Thanka (ban.) Kathe Kaulo (nep.) Persea bombycina (King ex Hooker fil.) Kostermans
ähnlich wie Thumpuk. Die Blätter sind härter und lederartiger als bei Thumpuk und riechen nicht so stark.
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Wahi (ban.) Katus (nep.) Castanopis tribuloides (Smith) A. de Candolle
Immergrüner mittelhoher Baum dessen Blätter zur Heilung verwendet
werden. In der Wirkung dem Thumpuk ähnlich obwohl die Blätter nicht den
Duft von Thumpuk-Blättern haben. Magisches Heilmittel gegen Frauenkrankheiten.
Der Stamm dient als Bauholz.
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Uni - Wasep (ban.) Ainu (nep.) Pteridium aquilinum (L.) Kuhn
Adlerfarn. Wird möglichst frisch verwendet und ist stark abweisend. Große
Bedeutung als magisches Heilmittel sehr wirksam beim Befall durch einen Totengeist.
Bei Beerdigungen wird die Leiche mit Blättern von Uni- Wasep bedeckt.
Uni-Wasep und Tharu-Wasep braucht man zur Herstellung von
Bobkha aus indigenen Pflanzen hergestellten kleinen Hefefladen oder
-kugeln die zur Herstellung von verschiedenen alkoholischen Getränken
aus Hirse Reis und Mais benötigt werden. Um den Gärvorgang vor
bösem Blick zu schützen d.h. die zu vergärende
Flüssigkeit nicht sauer werden zu lassen werden die Bobkha-Fladen
mit Blättern einer der beiden Farnarten umwickelt. Ein solcherart hergestelltes
Hirsebier ist unverzichtbarer Bestandteil aller großen Heilrituale.
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Tharu-Wasep (ban.) Uniu (nep.) Dryopteris chrysocoma C.Christensen
äußerlich unserem Wurmfarn (Dryopteris filix-mas (L.) Schott) ähnlich.
In der Wirkung etwas schwächer als Uni-Wasep. Wird wie dieser verwendet.
In der Phytotherapie gebräuchliches Mittel zur Blutstillung bei der ein
Pflanzenbrei aufgetragen wird. Dazu gibt es eine Legende: Jäger schossen einst
einen Hirsch und machten sich daran ihn zu zerteilen. Da brach die Nacht herein
und sie mussten ihre Arbeit unterbrechen. Sie bedeckten den halbzerschnittenen
Hirschkadaver mit Blättern des Tharu-Wasep. Als sie am nächsten Morgen
ihr Werk fortsetzen wollten waren die Fleischstücke wieder zusammengewachsen.
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Thombi (ban.) Titepati (nep.) Artemisia indica Willdenow
ähnlich unserem Beifuß (Artemisia vulgaris L.) nur größer und mehrjährig. Der Alleskönner unter den
Schamanenpflanzen. Wird oft und in vielerlei Weise aber immer frisch angewendet.
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Eine kleine Anektote: Als man vor einigen Jahren eine Schamanin wegen ihrer sich verschlimmernden Altersfehlsichtigkeit
zum Optiker brachte um ihr eine passende Brille zu verordnen sagte sie: "Ich brauch doch sowas nicht, es gibt ohnehin Thombi."
Thombi hat auch eine überragende Bedeutung in der phythotherapeutischen Volksheilkunde.
Falls Thombi nicht Bestandteil des Seoli ist kommt es in irgendeinem anderen Zusammenhang des Rituals zum Einsatz. Kein Ritual ohne Thombi!
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Die Worte
Die Art der Verbindlichkeit der Worte und der Töne die der Schamane an die
Pflanze richtet entspringen der gleichen Einfalt wie die Deutung der Naturphänomene.
Er spricht die Pflanze tatsächlich in seiner Muttersprache an. Mit der Naivität
verhält es sich dabei aber gar nicht so einfach. Der Schamane nimmt bei aller holden
Einfalt natürlich nicht an dass die Pflanze ihn wirklich versteht. Er hat nur
kein anderes Mittel zur Verfügung als die Worte seiner eigenen Sprache. Er begibt
sich in die Situation eines erwachsenen Menschen der zu einem Kleinkind spricht.
Das Kind versteht ihn semantisch natürlich nicht und der erwachsene Mensch weiß
das auch. Trotzdem hat er diese Art der Verständigung mit dem Baby gewählt;
erstens steht ihm kein anderes Mittel zur Verfügung und zweitens begibt er beim
Sprechen in eine Sphäre in der er fernab der Worte sehr wohl ein Feedback
von dem angesprochenen Wesen erfährt. Das Baby reagiert eindeutig auf ihn
was ihn in seinem Tun wiederum bestätigt und bestärkt. Der Schamane verfährt
ebenso wenn er zu einer Pflanze spricht. Er tut so als ob er es mit
seinesgleichen zu tun hätte und sein pflanzliches Gegenüber ihn verstünde.
Dabei merkt er am Feedback dass er etwas bewirkt was wiederum auf ihn selbst
ein Feedback auslöst. So befindet er sich in einem lebendigen Spannungsfeld
das so nicht vorhanden wäre würde er gegen eine Wand sprechen. Die
Bantawa-Rai sagen: " Wenn man (im Ritual) ein Wesen ruft dann so
dass es antwortet sonst stirbt man."
Als kleine Kostprobe eines solchen Textes folgt eine freie übertragung eines Zauberspruches an den Beifuß.
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Beifuß
gib Zunder!
Gib Power!
Mach heil!
Und jetzt: Stimmung!
Komm mach schon! Gib Kraft!
Komm mach schon!
Gib Kraft!
Komm mach schon! Gib Kraft!
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Der Gesang
Das gesungene Wort hat eine ganz andere Wirkung als das gesprochene. Mehr noch als
das Wort ist der Gesang dafür geeignet eine überpersönliche
Ebene zu erreichen auf der man selbstvergessen und frei von bewusster Absicht
viel authentischer agieren kann als im Zustand selbstreflektierter Alltagsnüchternheit.
Obwohl die Töne von einer individuellen Person stammen tritt während
des Singens die Person als Individuum zurück und begibt sich in einen Kontext
der die übliche verbale Kommunikation mit all ihren psychischen Intensitäten
hinter sich lässt zu Gunsten eines anderen musikalischen Ausdrucks
des Melos. Mit dem Mittel des Melos ist ein Höchstmaß an Unmittelbarkeit und
Kräftigkeit möglich. Es versteht sich von selbst dass dabei nicht von
einer artifiziellen musikalischen Komposition die Rede ist; es handelt sich
aber nichtsdestotrotz um Musik die halt einen Zweck hat der außerhalb
ihrer selbst liegt nämlich in diesem Fall die Kraft einer Pflanze zur
Heilung zu nutzen. Was den Gesang generell betrifft so ist er so unreflektiert
wie möglich. Das ist auch evident wenn man bedenkt dass der
Schamane während des Heilrituals angeregt u.a. durch die schnellen
Trommelschläge in einem ekstatisch- Trance-artigen Zustand
ist indem sich jede reflexive und selbstreflexive Haltung von selbst verbietet.
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Mensch und Natur
Seoli ist für die Bantawa-Rai ein wirksames Mittel im Umgang mit einer
Umgebung die sie als Naturgewalt erleben. Im Alltag sind sie ohnehin bemüht
sich mit dieser Naturgewalt im Einklang zu befinden und sich mit ihr zu arrangieren.
Aufmerksamkeit und Achtsamkeit prägen den Umgang der Bantawa-Rai mit ihrer
natürlichen Umgebung. Eine Störung des Verhältnisses Mensch-Umgebung
äußert sich als Krankheit. In diesem Fall kommt Seoli eine große Bedeutung zu.
Der Naturmensch erlebt sich als Teil der ihn umgebenden Welt mit allem
was für ihn ist. Sein Umgang mit ihr entspringt einer unmittelbaren Erfahrung.
Der moderne Menschsieht sich als Beobachter und Verwalter der Natur. Er ist nicht Teil
der Natur; er steht außerhalb von ihr. Für ihn sind Verfügbarkeit und
Machbarkeit die Kriterien des Umganges mit ihr. Seine Beziehung zu ihr ist durch Mittelbarkeit geprägt.
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Der aufgeklärte technische Mensch fühlt sich wegen gewisser
zweifelsohne großer Erfolge in der Naturbeherrschung in seinem Tun bestätigt
und dem Naturmenschen überlegen. Das gilt natürlich auch für die
unbestreitbar großartigen Leistungen auf medizinischem Gebiet sei es in
der Zahnmedizin in der Chirurgie oder auch der Psychiatrie.
An den entsprechenden kulturellen Schnittstellen fühlt sich der Naturmensch auf
Grund des überlegenen Auftretens des technischen Menschen diesem unterlegen.
Der will auch so werden wie dieser und erliegt dabei der Illusion dass ihm
auf dem Weg zum technisch-zivilisierten Menschen die Reichhaltigkeit und Tiefe
seines unmittelbaren Erlebens selbstverständlich erhalten bleibt. Der technische
Mensch andererseits ist sich dessen gar nicht bewusst was ihm an Unmittelbarkeit
und damit an Lebensqualität fehlt. Es ist ihm abhanden gekommen.
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Anmerkung des Autors: Bei der nicht unproblematischen Bestimmung der einzelnen
Pflanzen war das Buch "Plants and People of Nepal" von Narayan P. Manandhar
Timber Press 2002 hilfreich. Das übrige Faktenwissen konnte im Dorf Chhinnamakhu
bei Bhojpur in Ost-Nepal gesammelt werden. Besonders ergiebig waren die Auskünfte
der Schamanen Parvati Rai Arjun Rai sowie des Bauern und Lastenträgers Kombule Rai.
Die Vermittlung nach Chhinnamakhu erfolgte durch Navaraj Rai.
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